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Künstlerin und Bewahrerin: Ella Ziegler sammelt das Wissen von Bäuerinnen über Streuobst
Streuobstwiesen sind Kulturerbe und Kulturlandschaft in einem. Das Obst, die hohe Artenvielfalt, aber auch die Streuobstkultur begeistern viele. Wir stellen in unserer Reihe Kunstschaffende vor, die einen neuen Zugang zu Streuobst bieten. Ella Ziegler ist Künstlerin, Wissenschaftskommunikatorin sowie Kunstvermittlerin und versteht es, komplexes Wissen auf einfache und emotionale Weise zu vermitteln. In ihrem Projekt dokumentiert sie das alte Wissen von Bewirtschafterinnen und Bewirtschaftern und macht es auf einer Streuobstwiese in Steinbächle, der Heimat der Künstlerin, für Besucherinnen und Besucher zugänglich.
- Künstlerin: Ella Ziegler, Steinbächle (Lkr. Schwäbisch Hall, Baden-Württemberg)
- Das Interview führte: Mira Mosbacher, Hochstamm Deutschland e.V.
Streuobst-News (SN): Frau Ziegler, Sie sind in Hohenlohe aufgewachsen. Welche Erinnerungen aus Ihrer Kindheit verbinden Sie persönlich mit Streuobstwiesen?
Ella Ziegler (EZ): In meiner Erinnerung verbinde ich mit den Streuobstwiesen vor allem, wie unser Großvater Obstbäume veredelt hat. Ich denke, ich habe damals nicht wirklich verstanden, was er gemacht hat, aber diesen Vorgang zu beobachten fand ich interessant. Die Ernte der Früchte war jedes Jahr viel Arbeit: Meine Eltern ernteten Äpfel und Birnen, die eingelagert wurden, und wir lasen das Obst für den Apfelsaft und für den Most zusammen. Eine lebendige Erinnerung ist, wie ich mit meinem Vater beim Mosten war und beobachtete, wie mit der großen Saftpresse der Saft gepresst wurde. Gleichzeitig erinnere ich mich daran, dass meine Schulfreunde oft die knackigen, makellosen Äpfel aus dem Supermarkt in der Schule dabeihatten. Und natürlich hätte ich als Kind auch gern solche ‘perfekten’ Äpfel gegessen. Unsere eigenen Äpfel, die alten Sorten, waren im Januar/Februar schon langsam schrumpelig oder fleckig.
SN: Ihre Kunst befasst sich mit vielfältigen Themen. Erzählen Sie uns von Ihrem Projekt „Streuobstwiese – Kultur & Landschaft“: Was genau haben Sie an Ihrem Herkunftsort realisiert?
EZ: Mit meinem Projekt „Streuobstwiese – Kultur & Landschaft“ stelle ich die Streuobstwiesen – die vom UNESCO-Komitee in Deutschland als immaterielles Kulturerbe kategorisiert wurden – als lebendigen kulturellen Lebensraum dar. Zusammen mit den ältesten Bäuerinnen, die sich über Jahrzehnte um diese wertvollen ökologischen und artenreichen Lebensräume kümmerten, habe ich ihre Geschichten und ihr Erfahrungswissen gesammelt. Ziel war es, die Verbindung zwischen Natur, Landwirtschaft und Kultur erlebbar zu machen. An jedem Baum befindet sich ein Schild, das Sortennamen, kulturgeschichtliche Besonderheiten und das Wissen der Bäuerinnen über ihre Bäume und über die Pflege dieser Landschaft digital zugänglich macht. Durch QR-Codes haben Besucherinnen und Besucher Zugang zu Tonaufnahmen meiner Mutter Liesel Ziegler (91) und ihrer Schwester Berta Bausch (90), die über jeden einzelnen Baum, über die Früchte, die Verarbeitung und über Geschichten aus der Vergangenheit berichten.
SN: Was hat Sie motiviert, dieses Projekt umzusetzen? Gab es einen Moment, der für Sie ausschlaggebend war?
EZ: Mir ist bewusst geworden, dass das kulturelle und ökologische Erfahrungswissen, das sich meine Mutter über Jahrzehnte über jeden einzelnen Baum angeeignet hat, mit ihrem Tod verloren geht. Das hat mich motiviert, dieses Wissen – also die Pflege der Streuobstwiesen, die Sorten und deren Erntezeit und Verarbeitung – zu dokumentieren. Nachdem ein Pomologe die Sorten auf unserer Streuobstwiese bestimmt hatte – wir haben 37 Obstbäume und 28 verschiedene Sorten – war es mir klar, dass diese Wiese ein geeigneter Ort für das Projekt ist.
SN: Welche Veränderungen oder welches Bewusstsein möchten Sie mit dem Archiv anstoßen – sowohl bei der lokalen Bevölkerung als auch bei Menschen außerhalb der Region?
EZ: Mit diesem Projekt möchte ich das Bewusstsein für die Bedeutung der Streuobstwiesen als kulturelles und ökologisches Erbe stärken. Ich möchte, dass sowohl die lokale Bevölkerung als auch Menschen außerhalb der Region verstehen, wie wertvoll diese Landschaften sind – nicht nur aus landwirtschaftlicher Perspektive, sondern auch als Biodiversitäts-Hotspots und als Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Darüber hinaus hoffe ich, dass die Menschen erkennen, wie wichtig es ist, die einzigartige Artenvielfalt einer Streuobstwiese zu schützen, indem sie die Wiesen erhalten und bewirtschaften. Viele verschiedene Sorten zu erhalten und zu pflanzen ist ebenso eine sinnvolle Maßnahme, um den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen.
SN: Was wünschen Sie sich, dass Besucherinnen und Besucher empfinden oder mitnehmen, wenn sie durch die Wiesen gehen und mit Ihrer Installation interagieren?
EZ: Ich wünsche mir, dass die Besucherinnen und Besucher eine tiefe Verbundenheit mit der Landschaft spüren. Wenn sie durch die Wiesen gehen und mit den QR-Codes interagieren, sollen sie nicht nur Informationen erhalten, sondern auch das Gefühl haben, einen Dialog mit der Natur und den Frauen, die diese Wiesen über Jahrzehnte gepflegt haben, zu führen. Die künstlerische Intervention soll die Geschichten der Menschen lebendig und die Schönheit und Bedeutung der Streuobstwiesen für die Region sichtbar machen. Mein Ziel ist es, dass die Besucher mit einem Gefühl der Wertschätzung für diese Kulturlandschaft und für die Traditionen, die sie erhalten, nach Hause gehen und einen neuen wertschätzenden Blick auf diese entwickeln.
SN: Was bietet die Verbindung eines Themas wie Streuobst mit Kunst aus Ihrer Sicht für die Bewirtschafterinnen und Bewirtschafter?
EZ: Das öko-soziale Projekt hat zwei Schwerpunkte. Es bietet den Bewirtschafterinnen und Bewirtschaftern eine Möglichkeit, ihre Arbeit und ihr Wissen auf eine neue, kreative Weise wahrzunehmen. Oft wird die Bedeutung von Bauern und Bäuerinnen in der ländlichen Kultur übersehen. Durch das Projekt bekommen sie eine Plattform, um ihre Geschichten zu erzählen, ihre Expertise zu teilen und ihre Arbeit zu würdigen. Es ist auch eine Gelegenheit, das Thema nachhaltige Landwirtschaft und Biodiversität in einem breiteren kulturellen Kontext zu präsentieren und somit das Verständnis und die Anerkennung und Wertschätzung der Ältesten für ihre Arbeit zu stärken.
SN: Haben Sie während der Arbeit an der Installation etwas gelernt oder erlebt, das Sie persönlich besonders geprägt hat und das Sie mit uns teilen möchten?
EZ: Ich habe das gelernt, was mein Großvater als junger Mann auch gelernt hat. Ich habe Edelreiser von dem Lieblingsapfel meiner Mutter, dem „Krügers Dickstiel“, geschnitten und im Frühling diese und andere Edelreiser von alten Sorten, die ich auf Obstwiesen von Freundinnen meiner Mutter geschnitten habe, auf Unterlagen veredelt. Von zwanzig Veredelungen sind fünfzehn Edelreiser angewachsen. Im Sommer habe ich dann noch das Okulieren ausprobiert. Von fünf sind zwei angewachsen. Das Veredeln ist ein schönes Beispiel dafür, wie der Mensch im Dialog mit der Natur handeln und leben kann.
Man braucht etwas Geduld und Ruhe, um den langfristigen Wert von Traditionen und handwerklichem Wissen zu erkennen. Es ist oft leicht, sich von der schnellen Welt der Technologie und Innovationen ablenken zu lassen. Die Gespräche mit den älteren Frauen und das Erleben ihrer tieferen Verbindung zur Natur haben mir gezeigt, wie nachhaltig und wertvoll diese alten Praktiken sind. Besonders berührend war für mich, wie viele der Frauen stolz darauf sind, ihr Wissen weiterzugeben – oft auf eine sehr bescheidene, aber kraftvolle Weise. Eine Bäuerin hat mir bei einem Besuch beim Abschied gesagt: „Viele Dank, dass Du das machst!“
SN: Vielen Dank, dass Sie Ihre Begeisterung mit uns teilen!
Ella Ziegler wurde am 15. Oktober 1970 in Ilshofen geboren und wuchs in Steinbächle auf. Heute arbeitet sie als Künstlerin, Kuratorin und Kunstvermittlerin an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Ökologie. Ihre Praxis umfasst soziokulturelle Projekte und Community Science, Performances, interaktive Installationen sowie Publikationen. Inhaltlich konzentriert sie sich auf gesellschaftlich und ökologisch relevante Themen wie Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft und die Politik der Emotionen. Zwischen 2011 und 2017 war sie Professorin an der Kunsthochschule Kassel. Dort initiierte sie den „Salon Universitas“ (2014–2017), eine Plattform für den Austausch zwischen Kunst, Wissenschaft und Gesellschaft.Seit 2020 arbeitet sie mit Wissenschaftlern wie Prof. Dr. Johannes Lehmann (Cornell University, USA) und Prof. Dr. Jörg Felmeden (Technische Hochschule Ostwestfalen-Lippe) zusammen und vermittelt wissenschaftliche Forschung durch künstlerische Methoden. Ziegler studierte Freie Kunst an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle sowie Environmental Art an der Glasgow School of Art.